Ein Verhältnis im Zeichen der Geschichte
Als ihm die Stadt Ulm im Jahre 1920 "Glückwünsche der Stadt" übermittelte - immerhin noch zwei Jahre bevor ihm der Nobelpreis verliehen wurde - antwortete Einstein in einem Dankesschreiben und lobte darin die „erfolgreiche und wohltätige Bodenpolitik" Ulms, die „im In- und Auslande vorbildlich gewirkt hat".
Die erste Interaktion zwischen Stadt und ihrem berühmtesten Sohn "lief also nicht schlecht". Auch auf die Benennung einer Straße Ulms mit seinem Namen, die ihm die Stadt in einem Glückwunschschreiben zu seinem 50. Geburtstag mitteilte, reagierte der Nobelpreisträger 1929 artig und mit dem ihm eigenen Humor: „Von der nach mir benannten Straße habe ich schon gehört. Mein tröstlicher Gedanke war, dass ich ja nicht für das verantwortlich bin, was darin geschieht."
Diese höfliche, wenngleich auch eher oberflächliche Interaktion, kam im Jahr 1933 an ihr jähes Ende. Die Nationalsozialisten übernahmen die Macht in Deutschland. Der Jude Albert Einstein hatte bereits früh vor diesen faschistischen Tendenzen gewarnt und kehrte von einer Vortragsreise in den USA, wo er seit 1930 drei Monate pro Jahr in Princeton lehrte, nicht mehr zurück. Bereits im März 1933 veröffentlichte er folgendes "Bekenntnis":
„Solange mir eine Möglichkeit offen steht, werde ich mich nur in einem Lande aufhalten, in dem politische Freiheit, Toleranz und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze herrschen. Zur politischen Freiheit gehört die Freiheit der mündlichen und schriftlichen Äußerung politischer Überzeugung, zur Toleranz die Achtung vor jeglicher Überzeugung eines Individuums.
Diese Bedingungen sind gegenwärtig in Deutschland nicht erfüllt. Es werden dort diejenigen verfolgt, welche sich um die Pflege internationaler Verständigung besonders verdient gemacht haben, darunter einige der führenden Künstler. Wie jedes Individuum, so kann auch jeder gesellschaftliche Organismus psychisch krank werden, besonders in Zeiten erschwerter Existenz. Nationen pflegen solche Krankheiten zu überstehen. Ich hoffe, dass in Deutschland bald gesunde Verhältnisse eintreten werden und dass dort in Zukunft die großen Männer wie Kant und Goethe nicht nur von Zeit zu Zeit gefeiert werden, sondern dass sich auch die von ihnen gelehrten Grundsätze im öffentlichen Leben und im allgemeinen Bewusstsein durchsetzen."
Die nationalsozialistischen Machthaber in Ulm reagierten: Noch im gleichen Monat wurde die Einsteinstraße in "Fichtestraße" umbenannt. Im folgenden Jahr wurde Albert Einstein die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt.
Drehte sich der Konflikt zwischen Einstein und seinem Geburtsland zu Beginn also mehr oder weniger ausschließlich um politische Fragen, wurden die Probleme der Juden in Deutschland in den kommenden Jahren wesentlich existenzieller. 1933 bereits begannen die Boykotte gegen jüdische Geschäfte, 1935 folgten die "Nürnberger Gesetze" (Rassengesetze) und 1938 die Reichspogromnacht. In welch unvorstellbarer Grausamkeit, dem Holocaust, diese Entwicklungen letztendlich münden sollten, war damals jedoch scheinbar nicht für alle Betroffenen absehbar. Und doch wandten sich bereits in den Jahren vor Ausbruch des 2. Weltkriegs eine ganze Reihe Ulmer Verwandte an Einstein und baten um Hilfe. Einstein tat was er konnte, lieferte Bürgschaften, verfasste Empfehlungsschreiben und half auf diesem Weg vielen Familienmitgliedern, Deutschland noch vor Beginn der Katastrophe wohlbehalten zu verlassen. Für Lina Einstein, Bertha Hofheimer, Marie Wessel, Hugo Moos und Julius Moos - allesamt Cousinen und Cousins von Albert Einstein - gab es allerdings keine Rettung. Sie wurden von den Nationalsozialisten ermordet.
Bereits kurz nach Kriegsende, im Juli 1945, wurden in Ulm die Straßennamen wieder umbenannt und damit versucht, die Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus aus dem Stadtbild zu entfernen. Aus der Fichtestraße wurde wieder die Einsteinstraße. Einstein soll ein Jahr später davon erfahren und im Scherz vorgeschlagen haben: "Man sollte einen neutralen Namen wie "Windfahnenstraße" wählen - das wäre dem politischen Wesen der Deutschen besser angepasst und benötigte keine Umtaufen im Laufe der Zeit".
Von Seiten der Ulmer Stadtverwaltung gab es in den folgenden Jahren immer wieder Versuche, die Beziehungen zu Albert Einstein zu verbessern. Wollte man Schuld wiedergutmachen? Wollte man unterbewusst eine Art Absolution erwirken? Oder war es der ehrliche Versuch, nach zwölf Jahren unfassbarer Verbrechen, endlich wieder das Richtige zu tun? Wahrscheinlich war es eine Kombination aller dieser denkbaren Beweggründe. Aus heutiger Sicht mag es eher überraschen, dass Einstein so kurz nach dem Holocaust überhaupt dazu bereit war, die Kommunikation mit der Stadt Ulm wieder aufzunehmen. Doch er tat es. Er antwortete stets auf die jährlich von der Stadt an ihn gesendeten Geburtstagsglückwünsche. Zwar lehnte er die Annahme der Ehrenbürgerschaft mit dem Hinweis auf die im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen an seinen Glaubensbrüdern ab. Er tat dies aber mit einem persönlichen, vertraulichen Brief an den Oberbürgermeister und ersparte den Ulmer Stadtoberen damit eine öffentliche Zurechtweisung.
Als er sich 1949 beim damaligen Oberbürgermeister Theodor Pfizer für die Übersendung einer Broschüre über die Feierstunde zu seinem 70. Geburtstag schriftlich bedankte, kann man vorsichtig versöhnliche Töne heraus hören: „Wir leben ja in einer Zeit tragischer und verwirrender Ereignisse, sodass man sich doppelt freut über jedes Zeichen humaner Gesinnung."
Wahr ist aber auch, dass Einstein Ulm nie wieder betreten hat. Man mag es sehr gut verstehen.